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Fallbeispiele zum Thema Täter-Opfer-Ausgleich

Fallbeispiel 1:
Streit beim Fußballspiel

Schlägerei bei einem Fußballspiel: Nach einer strittigen Schiedsrichterentscheidung geraten zwei gegnerische Spieler in Streit, der eine tritt zu, der andere versetzt ihm einen Kopfstoß und bricht ihm das Nasenbein. Anschließend kommt es zu einer Rangelei mit vielen Beteiligten. Das Spiel wird abgebrochen.

Zwei Monate später überweist die Staatsanwaltschaft den Fall der WAAGE zum Versuch einer außergerichtlichen Klärung. Beide Spieler, Schwarzenbeck und Körbel (Namen geändert), 20 bzw. 21 Jahre alt. sind sowohl als Beschuldigte als auch als Geschädigte genannt. Ferner kündigt die Staatsanwaltschaft an, beiden nach einem gelungenen TOA zusätzlich eine Geldbuße verhängen zu wollen.

Nach den Anschreiben der WAAGE meldet sich zunächst Herr Körbel und bittet um einen Termin für ein Einzelgespräch. Der Fall wird in Co-Mediation von einem haupt- und einer ehrenamtlichen Mediator/-in bearbeitet. Körbel berichtet, der andere habe ihn provoziert und in den Bauch getreten. Daraufhin habe er sich nur gewehrt. Im Laufe des Gesprächs räumt er ein, dass seine Reaktion möglicherweise überzogen war. Er übernimmt die Verantwortung für die Verletzung von Schwarzenbeck, will aber nicht als der allein Schuldige dastehen. Ihm ist sehr an einer Klärung gelegen, da er berufliche Konsequenzen fürchtet. Außerdem steht demnächst ein weiteres Spiel gegen die Mannschaft von Schwarzenbeck an.

Schwarzenbeck reagiert erst nach zwei Briefen und mehreren Anrufen der Mediatoren. Er ist sehr skeptisch bezüglich eines TOA. Der andere sei äußerst brutal vorgegangen. Er selbst sei zu Unrecht beschuldigt, denn er habe sich nur gewehrt. Ein Rechtsanwalt habe ihm geraten, es auf einen Prozess ankommen zu lassen und 3000 € Schmerzensgeld zu fordern. Nach einer Bedenkzeit erklärt er sich trotzdem zum TOA bereit. Schwarzenbeck wirkt recht unsicher und schüchtern. Erst im Laufe des Einzelgesprächs taut er langsam auf, berichtet von der Schlägerei und seinen Verletzungen. Er befürchtet weitere Aggressionen von Körbel und dessen Mitspielern. »Zwei von denen habe ich letztens in der Stadt gesehen. Ich dachte, die gehen gleich wieder auf mich los.«, sagt er.

Zwei Wochen später kommt es zur Mediation. Körbel und Schwarzenbeck begrüßen sich nicht und vermeiden den Blickkontakt. Nach einer kurzen Einleitung bitten die Mediatoren die beiden Spieler, den Vorfall, die Schlägerei und deren Konsequenzen aus ihrer Sicht zu schildern. Kurz danach eskaliert das Gespräch: »Solche Affen wie Euch sollte man gar nicht auf den Platz lassen!«, schimpft Körbel, »… und dann auch noch das arme Opfer spielen …«. Schwarzenbeck steht auf und will das Gespräch beenden. Die Mediatorin geht mit ihm ins Nebenzimmer, der Mediator redet unterdessen mit Körbel. Sie beruhigen die Streitenden, geben ihnen die Möglichkeit, »Dampf abzulassen« und besprechen mit ihnen das Für und Wider eines Einigungsversuchs. Nach einer halben Stunde sind alle bereit, das Gespräch fortzusetzen.
Als Schwarzenbeck berichtet, wie schmerzhaft und peinlich die Behandlung des Nasenbeinbruchs war, sagt Körbel: »Verdammt, das wollte ich wirklich nicht. War Mist …«. Nachdem es nicht mehr um Richtig und Falsch geht oder um die Frage, wer angefangen hat, sondern um das Erleben, die Empfindungen und Interessen der Streitenden, wächst das gegenseitige Verständnis. Beide nehmen die Entschuldigung des anderen an.

Als die Mediatoren das Gespräch nach ca. einer Stunde auf die Frage der Wiedergutmachung lenken, berichtet Schwarzenbeck von der Aussage des Rechtsanwalt, sagt dann aber: »3000 € ist Blödsinn. Du bist ja kein Millionär.« Sie reden über ihre Einkommensverhältnisse und einigen sich auf ein Schmerzensgeld i.H.v. 1200 €, zahlbar über den Opferfonds der WAAGE.
Abschließend unterhalten sie sich über ihre Mannschaftskameraden und das anstehende nächste Spiel. Sie wollen sich vorher in der Kabine zusammensetzen und den anderen erzählen, dass sie die Sache fair aus der Welt geschafft haben. In dieser Phase des Gesprächs sind die Mediatoren weitgehend passiv. Sie protokollieren das Ergebnis. Hinsichtlich der Rückmeldung an die Staatsanwaltschaft stimmt Körbel zu, dass eine Bestrafung Schwarzenbecks ungerecht sei: »Der hat ja wirklich nicht viel gemacht. Ich war ja der Hitzkopf. Aber das passiert mir nicht nochmal …«

 

Fallbeispiel 2:
Der Zehntausendste Fall der Waage Hannover

(Fallbeschreibung anonymisiert)

Es handelt sich um eine (gegenseitige) Körperverletzung zwischen zwei Türstehern und zwei Gästen abends vor einer Diskothek. Nach einem verbalen Streit kommt es zur Prügelei, die erst durch die Polizei beendet wird. Alle Beteiligten erstatten Strafanzeige.

Fünf Monate später wird die Waage von der Staatsanwaltschaft mit dem Versuch eines Täter-Opfer-Ausgleichs beauftragt. Die Beteiligten werden angeschrieben, zwei beteiligte Rechtsanwälte per Fax informiert. Nachdem alle in Vorgesprächen ihre Bereitschaft zum Versuch einer außergerichtlichen Klärung geäußert haben, kommt es zum gemeinsamen Gespräch / zur Mediation bei der Waage.

Zunächst ist die Stimmung sehr angespannt, keine Begrüßung, böse Blicke. Alle sehen jeweils die »Gegenseite« als hauptverantwortlich für die Eskalation an und sagen, sie selbst hätten nur reagiert. Auslöser des Streits waren angebliche ausländerfeindliche Äußerungen eines der Gäste, die dieser allerdings bestreitet.

Die beiden Mediatoren müssen die Männer mehrmals beruhigen und auffordern, sich nicht andauernd zu unterbrechen.

Erst als zur Sprache kommt, dass der eine Gast in Sorge war, weil seine Freundin zuvor von einem anderen Mann belästigt wurde, dass die Türsteher an dem Abend schon Ärger mit betrunkenen und aggressiven Gästen hatten und alle weder ausländerfeindlich noch an einer juristischen Auseinandersetzung interessiert sind, verbessert sich die Atmosphäre. Die Männer sehen ein, dass alle zu aufgeregt verhalten haben und entschuldigen sich gegenseitig für ihr Verhalten.

Zur Wiedergutmachung der Verletzungen eines Türstehers und eines der Gäste werden Schmerzensgeld-Beträge von 500 € und 100 € vereinbart.

Die Mediatoren setzen eine Vereinbarung auf, in der die Ergebnisse des Täter-Opfer-Ausgleichs festgehalten sind. Vor der Unterschrift werden die Rechtsanwälte konsultiert. Zum Abschluss geben sich die Beteiligten die Hand. Einer sagt: »Gut, dass wir das hier bei der Waage aus der Welt schaffen konnten.«

Abschließend sendet die Waage eine Rückmeldung an die Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungsverfahren werden eingestellt (die Beschuldigten waren nicht vorbestraft).

 

Fallbeispiel 3:
»Eine Sache der Ehre« – Mediation nach einer Massenschlägerei

»Die mach isch platt! Alle, verstehs Du?!«, sagt der 20jährige Bosnier im Einzelgespräch.

Ein Streit innerhalb einer Großfamilie mündete in einer Schlägerei auf offener Straße mit 30 beteiligten Personen, vielen Verletzten und einem Großeinsatz der Polizei. Drei Monate später beauftragte die Justiz die Waage Hannover mit dem Versuch einer Mediation. – Laut Aktenlage bestanden vielfältige gegenseitige Vorwürfe und Drohungen. Rechtsanwälte waren eingeschaltet und die Beteiligten teilweise der deutschen Sprache nicht mächtig.

Die spontane Befürchtung des Mediators war: Das ist ein schwieriger Fall mit großem Aufwand und wenig Chance auf Erfolg. Dann stellte er sich die Frage: Wie gehen wir an den Fall heran? Er zog einen älteren (ehrenamtlichen) Co-Mediator hinzu. Sie suchten einen kompetenten Dolmetscher und luden mutmaßliche Schlüsselpersonen (u.a. zwei Brüder, mutmaßlich die Familienoberhäupter, sowie zwei der jungen Männer, die bei der Schlägerei besonders aktiv waren) zu unverbindlichen Vorgesprächen ein.

Hier erst erhielten sie eine Ahnung von der Komplexität des Konfliktes: Es handelte sich um Zweige einer seit Jahren zerstrittenen bosnischen Familie. Einer der Männer ist mit einer Deutschen verheiratet. Es kam zu wechselseitigen Ehrverletzungen, Drohungen und Verleumdungen. Beim Versuch der einen Seite, die andere zur Rede zu stellen, eskalierte der Streit dann in einer Massenschlägerei. Die Vorgespräche waren geprägt von Schuldzuweisungen und Rachegedanken. »Wenn der das nicht zurücknimmt, mach ich den tot.!«. Zudem standen Forderungen nach Schmerzensgeld und öffentlicher Entschuldigung im Raum.

Beim ersten Mediationstermin waren zehn Personen anwesend. Nach einleitenden Worten gaben die zerstrittenen Brüder nacheinander (und vom Dolmetscher wörtlich übersetzt) Erklärungen ab, in denen Sie ihren gegenseitigen Respekt und die Familienehre betonten. Beide erklärten, es sei eine Schmach, hier in Deutschland mit ihrem familiären Konflikt vor Gericht zu stehen. Die Schilderungen der Hintergründe verlief (besonders seitens der jüngeren Männer, s.o.) überaus hitzig. Die Brüder schauten grimmig. Nach einiger Zeit schlugen die Mediatoren eine Pause vor und trennten die Konfliktparteien. Die Familienoberhäupter sprachen separat mit den Söhnen.

Nach der Pause äußerten alle (!) Beteiligten ihr Bedauern über die Vorfälle. Man war sich darin einig, dass die Vorwürfe und Tathandlungen nicht im Einzelnen aufgeklärt werden können und dass der familiäre Frieden wichtiger ist. Das weitere Gespräch verlief friedlich und konstruktiv. Am Ende setzten die Mediatoren einen Vertrag auf, in dem Schmerzensgeldzahlungen in Höhe von 1500 €, das Unterlassen bestimmter Aussagen sowie ein zweites Treffen in acht Wochen vereinbart wurden und informierten die Rechtsanwälte. Das Ergebnis hatte Bestand.

Sicher keine schulmäßige Mediation. Was zeigt dieses Beispiel? Nur Mut. Ruhe bewahren. Traditionen nutzen. Der Kompetenz der Betroffenen vertrauen. Mitunter ist Ehre wichtiger als Recht.

 

Ansprechpartner/Koordinator:
Dr. Lutz Netzig

Dr. Lutz Netzig